MITTEILUNGEN 09-10/2005, Seite 305, Nr. 210

Sprachförderung in Kindertagesstätten


Für die frühe und individuelle Förderung von Kindern will die Landesregierung ein Diagnose- und Förderprogramm zur sprachlichen Förderung von Kindern vorlegen, das alle Kinder - auch die Kinder ohne Kindertagesbetreuung - erreichen soll. Alle Kinder sollen ein Jahr vor der Einschulung an einer Sprachstandserhebung teilnehmen und bei Bedarf intensiv gefördert werden. Über 1.500 durch das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport so genannte „Fördererzieherinnen“ sollen dazu qualifiziert werden. Die Landesregierung will die Kommunen darin unterstützen, dass sie die für die Diagnose und Fördertätigkeit erforderlichen Personalressourcen zur Verfügung stellen können.

Der Städte- und Gemeindebund Brandenburg begrüßt die Einführung von Sprachstandserhebungen in Brandenburg bereits vor der Einschulung. Nach Auffassung des Verbandes sollten die Sprachstandserhebungen bereits zu einem früheren Zeitpunkt als ein Jahr vor Schulbeginn bei jedem Kind durchgeführt werden, damit erfolgreich bis zum Schulbeginn Maßnahmen zur Sprachförderung ergriffen werden können.

Allerdings ist der Verband nicht damit einverstanden, dass die Sprachstandserhebungen durch die Erzieherinnen in Kindertagesstätten durchgeführt werden sollen. Der Städte- und Gemeindebund hält es auch nicht für richtig, dass Erzieherinnen Sprachförderung für diejenigen Kinder, die tatsächlich unter einer Sprachstörung leiden, durchführen sollen.

Die Vorstellungen des Ministeriums sind weit vorangeschritten, weil bereits im Internetauftritt des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport mit Datum vom 13. Juli 2005 die „Laufenden und geplanten Maßnahmen im Rahmen der Bildungsoffensive in neun Handlungsfeldern“ überarbeitet eingestellt sind, in denen es unter „2. Früherkennung von Entwicklungsbeeinträchtigungen“ heißt, der relativ hohe Anteil von Kindern, deren Entwicklungsbeeinträchtigungen erstmals im Zuge des Schuleintritts auffällig werden, verlange dringend eine Verbesserung der Früherkennung. Die Kindertagesstätte als Einrichtung, die bis zu 90 % aller Kinder Brandenburgs durchlaufen, sei hierfür der geeignete Ort und der tägliche Kontakt der pädagogischen Fachkräfte mit diesen Kindern verschaffe die beste Grundlage, mögliche Beeinträchtigungen frühzeitig zu erkennen. Das Instrument der Grenzsteine der Entwicklung werde nun den Erzieherinnen im ganzen Land publik gemacht, auch durch begleitende Fortbildungen. Unter „6. Förderung sprachauffälliger Kinder“ heißt es, das Ministerium fördere die Entwicklung eines Konzeptes zur Sprachstandfeststellung und Sprachförderung sprachauffälliger Kinder im letzten Jahr vor der Einschulung. Landesweit sollen den Erzieherinnen Fortbildungen angeboten werden, damit sie eine Zusatzqualifikation für Sprachförderung erhalten.

Diese konkreten Vorstellungen des Ministeriums sind in dieser Form abzulehnen.
Erzieherinnen sind - zu Recht - fachlich nicht in der Lage und nicht dafür zuständig, Sprachstandserhebungen durchzuführen und Diagnosen abzugeben. Für die Früherkennung von Krankheiten oder von Behinderungen sind sie nicht ausgebildet. Vielmehr ist dies Sache von Ärzten und Therapeuten. Diagnose heißt, Erkennung von Krankheiten. Hierfür sind Ärzte zuständig. Deren Fachlichkeit würde unterlaufen und es wäre ein Qualitätsverlust in der Versorgung der betroffenen Kinder zu befürchten, würde in Brandenburg die Sprachstandserhebung und die Prüfung des Sprachvermögens nicht durch fachkompetentes, speziell hierfür ausgebildetes Personal vorgenommen.

Es ist ein Unterschied, ob Erzieherinnen auf Grund der Grenzsteine der Entwicklung Kinder intensiver beobachten und hierdurch für Auffälligkeiten im Verhalten oder Entwicklungsverzögerungen von Kindern sensibilisiert werden oder ob sie Fehlentwicklungen oder Entwicklungsverzögerungen von Kindern diagnostizieren sollen. Das Instrument der Grenzsteine der Entwicklung wird durch die Kommunen in seiner Qualität nicht kritisiert, vielmehr stimmt der Städte- und Gemeindebund zu, dass es angewandt wird, damit Erzieherinnen bewusst die Entwicklungsschritte der Kinder beobachten können. Es ist jedoch etwas anderes, wenn flächendeckend ein so genanntes „Screening“ eingeführt werden soll, das in der Regel von Fachärzten durchgeführt wird, und nunmehr durch nicht medizinisch ausgebildete Erzieherinnen angewandt werden soll. Der Wissenschaftler Hans-Joachim Laewen von Infans und „Entwickler der Grenzsteine“ schreibt dementsprechend auch in der Einleitung zu den Grenzsteinen, dass diese eben kein Diagnoseinstrument sind und dass die Kompetenzen für Diagnosen nur dem Kinderarzt oder Psychologen zukommen.

Die kommunalen Kindertagesstätten können zwar, nach durch das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport geförderter Fortbildung, Sprachförderung in Gruppenarbeit in den Kindertagesstätten durchführen. Hiergegen werden nicht so sehr Einwendungen erhoben, vielmehr kann dies - wie Modelle gezeigt haben - sehr sinnvoll sein. Dies muß nur richtig organisiert und durch das Land finanziert werden. Die Erzieherinnen sind allerdings für die Sprachförderung aller Kinder zuständig. Für behinderte Kinder und von Behinderung bedrohter Kinder bedarf es der Hilfe durch andere Berufsgruppen. Heilpädagogen, Logopäden und andere Berufsgruppen sind dafür zuständig, den Kindern, die einen besonderen Förderbedarf haben, zu helfen und sie zu behandeln. Aus Gründen der hohen Fachlichkeit und Qualitätssicherung müssen hier die Grenzen der verschiedenen Berufsgruppen erkannt werden.

Ferner muss darauf verweisen werden, dass nach SGB V die Krankenversicherungen für die Früherkennung und Frühförderung zuständig sind und Logopäden in enger Zusammenarbeit mit Ärzten oder auf deren Verordnung hin tätig werden. Zum Berufsbild der Logopäden zählt, im Unterschied zu dem der Erzieherin, die Untersuchung und Therapie bei Störungen der Sprachentwicklung, bei Stimm-, Sprach- und Sprechstörungen verschiedenster Ursachen.

Das Berufsbild einer „Fördererzieherin“ ist nicht anerkannt und wohl eine Wortschöpfung des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport. Der Begriff wird durch den Städte- und Gemeindebund nicht verwendet werden, da er nicht als staatlich anerkannt gelten kann.

Der Städte- und Gemeindebund hat gegenüber der Landesregierung seit Sommer 2005 begründet angeregt, dass das Land die Sprachstandserhebung durch die Schulen durchführen lässt und die Pflicht zur Teilnahme an der Sprachstandserhebung im Schulgesetz verankert. Hierdurch wird zum einen die Fachlichkeit gewahrt, zum anderen wird sichergestellt, dass alle Kinder von der Sprachstandserhebung erfasst werden. Dem Land wäre es möglich, Statistiken zu erstellen und die Wirksamkeit der Sprachstandserhebung und etwaiger Sprachförderung zu überprüfen, was bei einer Sprachstandserhebung durch die Kindertagesstätten aus Gründen der Selbstverwaltung der Kommunen und aus Datenschutzgründen (keine Weitergabe von Daten der Kindertagesstätte an Dritte) nicht möglich wäre.

Nach Auffassung des Verbandes ist es notwendig, alle Kinder durch die Sprachstandserhebung zu erfassen, wenn man das Ziel, dass alle Kinder beim Schuleintritt ordentlich sprechen können, erreichen will. Häufig sind es gerade die Kinder aus bildungsfernen Familien, die eine Kindertagesstätte nicht besuchen. Unter anderem um diese Kinder zu erfassen, bedarf es nach Auffassung des Städte- und Gemeindebundes einer gesetzlichen Regelung, damit die Eltern dieser Kinder zur Sprachstandserhebung erscheinen. Eine solche gesetzliche Verpflichtung lässt sich allerdings nur im Schulgesetz, nicht im Kindertagesstättengesetz verankern, da nur bei der Staatlichen Schulaufsicht dem Land entsprechende staatliche Befugnisse eingeräumt sind. Der Besuch einer Kindertagesstätte ist freiwillig.
Mit der Sprachstandserhebung ist ein Grundrechtseingriff in die Rechte des Kindes und der Eltern verbunden. Da Grundrechte unverzichtbar sind, kann die Sprachstandserhebung auch nicht im Wege der Zustimmung durch die Eltern oder einer freiwilligen Teilnahme der Kinder mit Erlaubnis der Eltern ohne Grundrechtseingriff erfolgen. Insoweit gilt der Gesetzesvorbehalt nach Art. 19 Abs. 1 GG und speziell derjenige nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG.

Regeln aus anderen Ländern zeigen dies:
Die Verordnung über den Bildungsgang der Grundschule vom Januar 2005 des Landes Berlin sieht in § 6 eine Sprachstandfeststellung für das Vorschulalter vor. Nach dem Schulrecht in Niedersachsen beispielsweise (§ 54a Abs. 2 Satz 1 Nds. SchulG) sind Kinder, deren Sprachkenntnisse nicht ausreichen, um erfolgreich am Unterricht teilzunehmen, verpflichtet, ab dem 1. Februar des Einschulungsjahres an besonderen schulischen Sprachfördermaßnahmen teilzunehmen. Die Schule stellt bei den gemäß § 64 Abs. 1 Satz 1 Nds. SchulG künftig schulpflichtigen Kindern fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen. In § 64 Nds. SchulG heißt es: Schulpflichtige Kinder, die körperlich, geistig oder in ihrem sozialen Verhalten nicht genügend entwickelt sind, um mit der Aussicht auf Erfolg am Unterricht der Grundschule oder einer Förderschule teilzunehmen, können vom Schulbesuch um ein Jahr zurückgestellt werden. Sie können verpflichtet werden, zur Förderung ihrer Entwicklung einen Schulkindergarten zu besuchen.
In das Schulpflichtgesetz von Nordrhein-Westfalen sind im Sommer 2003 folgende Regelungen eingefügt worden: Bei der Anmeldung stellt die Schule fest, ob die Kinder die deutsche Sprache hinreichend beherrschen, um am Unterricht teilnehmen zu können. Kinder, die nicht über diese erforderliche Sprachkenntnis verfügen, kann die Schule zum Besuch eines vorschulischen Sprachförderkurses verpflichten, soweit sie nicht bereits in einer Tageseinrichtung für Kinder entsprechend gefördert werden. Die Anmeldung zur Grundschule erfolgt bis zum 15. November des Vorjahres.

Das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport weist gegenüber der Geschäftsstelle des Verbandes darauf hin, in diesen Ländern sei die Sprachstandserhebung im Schulgesetz verankert, weil in diesen Ländern ein erhöhter Anteil an ausländischen Kindern besonderer Förderung bedürfe. Nach Auffassung der Geschäftsstelle kann es keinen Unterschied machen, ob ein Kind sprachliche Defizite hat, weil es die deutsche Sprache nicht kann, oder weil es nicht sprechen kann, weil seine Eltern nicht auf seine sprachliche Entwicklung achten. In beiden Fällen geht es darum, dass die Schulfähigkeit der Kinder gefährdet ist. Unterschiedlich mögen die Maßnahmen sein, die für die betroffenen Kinder zur Behebung ihrer Sprachdefizite ergriffen werden müssen. Mag es bei einem ausländischen Kind noch ausreichend sein, wenn es im Rahmen der allgemeinen Sprachförderung in einer Kindertagesstätte Deutsch lernt, kann es für ein Kind, dessen Sprachdefizite behinderungs- oder krankheitsbedingt veranlasst sind, notwendig sein, ihm medizinisch-therapeutische Behandlung oder heilpädagogische Förderung zukommen zu lassen.

Das Präsidium des Städte- und Gemeindebundes hat in seiner Sitzung im August 2005 die Absicht des Landes, in Kindertagesstätten gezielt Sprachförderung zur Erziehung und Bildung aller Kinder durchführen zu lassen, grundsätzlich begrüßt. Die Absicht des Landes, Früherkennung und Frühförderung als medizinisch-therapeutische Instrumente in Kindertagesstätten durch die Erzieherinnen durchzuführen, wird hingegen abgelehnt. Ebenso wird der Vorschlag abgelehnt, die Sprachstandserhebungen durch die Kindertagesstätten durchführen zu lassen.

In diesem Zusammenhang ist letztlich auch darauf zu verweisen, dass der kinder- und jugendärztliche Dienst der Kommunen, der nach § 2 Abs. 1 Kinder- und Jugendgesundheitsdienst-Verordnung einmal jährlich alle in Kindertagesstätten oder in Tagespflege befindlichen Kinder im Vorschulalter ergänzend zu den vorhandenen Vorsorgeangeboten untersucht, einen Schwerpunkt seiner Arbeit auf diese Untersuchungen setzten könnte und durch Einsetzen eines besonderen Erhebungsinstruments sich besonders auf die Sprachentwicklung der Kinder konzentrieren könnte. Aber auch hierfür bedürfte es einer gesetzlichen Regelung im Schulgesetz oder im Gesundheitsdienstgesetz.

Monika Gordes, stellvertretende Geschäftsführerin

Az: 406-00