MITTEILUNGEN 09/2006, Seite 274, Nr. 135

Stellungnahme der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände zur Kommissionsmitteilung zu nicht vom EU-Vergaberecht erfasste Aufträge


Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände hat gegenüber dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) zur am 24.07.2006 veröffentlichten Mitteilung der EU-Kommission zur Auslegungsfrage von Verträgen, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, Stellung genommen.

Die EU-Kommission hatte am 24.07.2006 eine überarbeitete Mitteilung zu nicht vom EU-Vergaberecht erfassten öffentlichen Aufträgen vorgelegt. Die EU-Kommission hat das Ziel, die Märkte für öffentliche Aufträge mit kleinem Volumen verstärkt einem europaweiten Wettbewerb zu öffnen. Gegenwärtig besteht für Kommunen die Pflicht, erst ab gewissen Größenordnungen (Baubereich: 5 Mio. €; Liefer- und Dienstleistungsbereich: 200 000 €) eine EU-weite Ausschreibung vorzunehmen.

Die Bundesvereinigung hat in ihrem Stellungnahmeschreiben gegenüber dem BMWi die vorgelegte Kommissionsmitteilung kritisiert. Ihrer Auffassung nach kann es nicht angehen, dass über die Hintertür einer Kommissionsmitteilung – unter Missachtung der Gesetzgebungskompetenz in Europa sowie in Deutschland – im Kommunalbereich die Mehrzahl aller öffentlichen Aufträge, die gegenwärtig unterhalb der EU-Schwellenwerte liegen, in Zukunft von zusätzlichen und äußerst bürokratischen EU-Bekanntmachungs- und Vergaberechtspflichten erfasst werden und zudem in der Folge einem erweiterten Vergaberechtschutz unterliegen. Eine derartige Ausdehnung von EU-Kontrollpflichten ist insbesondere unter Entbürokratisierungsgesichtspunkten abzulehnen.

Die Stellungnahme der Bundesvereinigung lautet wie folgt:

„Anrede,

die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände hat mit großem Unverständnis zur Kenntnis genommen, dass die Europäische Kommission am 23.07.2006 eine Mitteilung zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, veröffentlicht hat.

1. Ziel der EU-Kommission

Inhaltlich will die EU-Kommission insbesondere bei Auftragsvergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte neue Standards schaffen, welche aus den Grundfreiheiten des EU-Vertrages (Nichtdiskriminierung und Transparenz) hergeleitet werden. Diese Standards sollen für kommunale Auftragsvergaben unterhalb der Schwellenwerte zur Anwendung kommen, die „für Anbieter aus anderen Mitgliedsstaaten“ von Interesse sein können. Neben konkreten Hinweisen zur Sicherstellung einer angemessenen Vergabebekanntmachung von Aufträgen mit Binnenmarktrelevanz befasst sich die Mitteilung mit weitergehenden Grundsätzen der Auftragsvergabe sowie mit dem für die Kommunen wichtigen Bereich des vergaberechtlichen Rechtschutzes.

2. Rechte des Europäischen Parlaments missachtet

Weiter ist festzustellen, dass die Mitteilung der EU-Kommission die Rechte des Europäischen Parlamentes und des Rates als Gesetzgebungskörperschaften vollkommen übergeht und daher
die Kommission in einem Bereich tätig wird, wo sie keine Kompetenzen besitzt. Rat wie Parlament haben mit dem aktuellen Vergaberechtspaket der Richtlinien 2004/18 und 2004/17 und den dort bestimmten EU-Schwellenwerten ausdrücklich die Binnenmarktrelevanz bei Vergaben parlamentarisch und demokratisch legitimiert bestimmt.

Die Differenzierung zwischen EU-relevanten Aufträgen oberhalb der Schwellenwerte und Aufträgen, die die Schwellenwerte nicht erreichen, entspricht dem Subsidiaritätsprinzip und macht deutlich, dass es für volumenmäßig geringere Aufträge grundsätzlich keine Kompetenz der Europäischen Union und der EU-Kommission gibt. Diese Kompetenzaufteilung darf auch nicht durch die Hintertür einer Kommissionsmitteilung unterlaufen werden. Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände spricht sich daher für eine Entschließung des Europäischen Parlaments aus, mit der die vorbezeichnete Mitteilung der Kommission insgesamt abgelehnt wird.

3. Vergaberechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte

Der Mitteilung zufolge ist bei Aufträgen, die unterhalb der Schwellenwerte liegen, zu berücksichtigen, dass der Einzelne gemäß der Rechtsprechung des EuGH einen effektiven gerichtlichen Schutz seiner Rechte in Anspruch nehmen können muss, der sich aus der Gemeinschaftsordnung herleitet. Nach unserer Auffassung ist nicht ersichtlich, dass ein gerichtlicher Vergaberechtschutz im Falle unterschwelliger Auftragsvergaben zwingend durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vorgegeben wäre.

In diesem Zusammenhang muss zudem darauf hingewiesen werden, dass sich die EU-Kommission beim Thema „Rechtsschutz“ in Widerspruch zu ihrem am 04.05.2006 vorgelegten Vorschlag für eine überarbeitete EU-Rechtsmittelrichtlinie gesetzt hat. In diesem Kommissionsvorschlag bleibt es dabei, dass subjektiver Bieterrechtschutz auf Vergabeverfahren ab den EU-Schwellenwerten beschränkt bleibt. Nach unserer Auffassung ist daher ein erweiterter Bieterrechtsschutz, der durch die Kommissionsmitteilung begründet wird, rechtlich und in der Sache nicht nachvollziehbar. Er ist der kommunalen Vergabepraxis in Deutschland nicht mehr zu vermitteln.

4. Auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe: Mehr Bürokratie und Kosten

Neben den Ausführungen der EU-Kommission zum Thema „Rechtschutz unterhalb der Schwellenwerte“ werfen weitere Einzelheiten der Mitteilung Fragen auf, die in der kommunalen Vergabepraxis zu erheblichen Rechtsunsicherheiten sowie Rechtschutzanfälligkeiten führen werden. Beispielhaft sei auf den Aspekt der „Binnenmarktrelevanz“ verwiesen. Der Mitteilung zufolgen sollen die aufgeführten Grundanforderungen für Unterschwellenvergaben nur für Auftragsvergaben gelten, die eine Binnenmarktrelevanz aufweisen und „möglicherweise für Wirtschaftsteilnehmer eines anderen Mitgliedsstaats“ von Interesse sein könnten.

Diese Vorgabe bedeutet, dass in jedem Einzelfall seitens öffentlicher Auftraggeber zu überprüfen sein wird, ob – etwa bei einer Beschaffung einer Kommune über Büromaterial von 70 000 € - tatsächlich eine Binnenmarktrelevanz vorliegt. Der hierdurch verursachte Bürokratieaufwand führt zu mehr Kosten ohne ein Mehr an Wettbewerb. Auch ist insbesondere die hiermit verbundene Rechtschutzanfälligkeit aus Sicht der Bundesvereinigung nicht hinnehmbar und widerspricht dem Ansatz, das Vergaberecht praxisgerecht und handhabbar zu gestalten.

Die gleiche Rechtsunsicherheit gilt für die in der Mitteilung angesprochene Möglichkeit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 EG-Vertrag. Zwar ist in der jetzt veröffentlichten Mitteilung der EU-Kommission auf die Festlegung einer De-Minimis-Grenze für die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission bei Verstößen gegen die Grundanforderungen des EG-Vertrags verzichtet worden. Gleichwohl weist die Mitteilung der Kommission darauf hin, dass Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden können, wenn dies angesichts der Schwere der Vertragsverletzung und ihrer Auswirkungen auf den Binnenmarkt „angemessen erscheint“. Auch in diesem Fall gibt die Kommissionsmitteilung einen auslegungsbedürftigen, unbestimmten Rechtsbegriff vor, welcher in der Vergabepraxis zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen wird.

5. Nationale Vergaberegeln kommen zur Anwendung

Im Übrigen wird durch die Mitteilung der EU-Kommission verkannt, dass in Deutschland unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte für Kommunen kein vergaberechtsfreier Raum existiert, sondern das nationale Vergaberecht mit der Anwendung der VOB (Baubereich) beziehungsweise der VOL (Liefer- und Dienstleistungsbereich) für die Kommunen zur Anwendung kommt. Ein ausreichender Wettbewerb sowie Transparenz und Nichtdiskriminierung können somit gewährleistet werden.

6. Aktivitäten der Bundesregierung anzuraten

Da die vorliegende Kommissionsmitteilung grundsätzliche Bedeutung für die zukünftige Entwicklung des Vergaberechts in Deutschland und Europa hat, bittet die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände die Bundesregierung nachdrücklich um eine weiterhin ablehnende Haltung gegenüber der Mitteilung. Dies schließt unseres Erachtens eine Prüfung der Bundesregierung zur rechtlichen Bestandskraft einer Kommissionsmitteilung ein, die offensichtlich unter Umgehung des Gesetzgebungsverfahrens der Gemeinschaft sowie unter Missachtung der mitgliedsstaatlichen Kompetenzen zustande gekommen ist. Gegebenenfalls sollte erwogen werden, die vorstehenden Fragen durch den Europäischen Gerichtshof klären zu lassen.

Nach unserer Auffassung kann es nicht angehen, dass über die Hintertür einer Kommissionsmitteilung im Kommunalbereich die Mehrzahl aller öffentlichen Aufträge, die gegenwärtig unterhalb der EU-Schwellenwerte liegen, in Zukunft von zusätzlichen und kostenintensiven EU-Bekanntmachungs- und Vergaberechtspflichten erfasst werden und zudem in der Folge einem erweiterten Vergaberechtschutz unterliegen. Eine derartige Ausdehnung von EU-Kontrollpflichten ist insbesondere auch unter Entbürokratisierungsgesichtspunkten abzulehnen.

Gerne steht Ihnen die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände in vorbezeichneter Angelegenheit für weitere Rückfragen sowie für einen Gedankenaustausch zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen“

Die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände beabsichtigt, die in der vorstehenden Stellungnahme aufgeworfenen Kritikpunkte auch dem Europäischen Parlament zur Kenntnis zu bringen. Es wird daher in Kürze eine gleichlautende Stellungnahme an die Mitglieder des EU-Binnenmarktausschusses versandt.

(Quelle: DStGB Aktuell 3206)

Az: 601-00

Seitenanfang